100 Jahre Bayernbund – Föderalismus und Pandemie

Gastbeitrag in Weiß-Blauer Rundschau von Frau Landtagspräsidentin Ilse Aigner

 

Lockdown ohne Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten?

 

Es gibt Staatsrechtler, die sagen, rechtlich betrachtet, brauche man für einen sogenannten Lockdown keine Ministerpräsidentinnen und -präsidenten. Artikel 74 des Grundgesetzes gebe dem Bund in Absatz 1 Nummer 19 die Gesetzgebungskompetenz für alle Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten. Tatsache ist: Der Bund dominiert zwar die Gesetzgebung, nicht aber deren Ausführung – im Wissen um die freiheitssichernde Wirkung föderaler Machtbegrenzung und die starke Stellung der Bundesländer im Verfassungsgefüge. Dennoch war die Pandemie für den Föderalismus eine außerordentliche Bewährungsprobe. Er hat sie bestanden – auch aufgrund seiner langen Tradition. Weder in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich die preußische Hegemonialmacht gegen die starken Länder im Süden durchsetzen. Und auch 1949, als es um die Wiederaufnahme des Bundesstaatsprinzips in das Grundgesetz ging – heute in Artikel 20 Absatz 1 geregelt –, galt das Hauptaugenmerk der Machtbegrenzung des Bundes und der Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern. Das ist fundamental für das Selbstverständnis unseres Landes, festgehalten in der sogenannten Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes. Sie enthält die Gliederung des Bundes in Länder und die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung. Der Bundesrat, dem diese Mitwirkung obliegt, wird aus gutem Grund das „ewige Organ“ genannt.

 

Krise des Föderalismus?

 

Und dennoch gibt es eine gewisse Gereiztheit gegenüber dem Föderalismus. Seit Beginn der Pandemie werden die kritischen Töne lauter und schriller: Der Föderalismus sei, so ist zu hören, erkennbar an seine Grenzen gestoßen. Zu viele Ministerpräsidentinnen und -präsidenten würden versuchen, nach eigenen Regeln zu verfahren. Das sei schädlich für das Gemeinwohl, denn aus virologischer Sicht wären einheitliche Maßnahmen geboten. Die Frage ist aber, ob einheitliche Maßnahmen auch effiziente Maßnahmen sind. Abschließend beantworten lässt sich das wohl nicht.

Das Bundesgesundheitsministerium hat zwar wohl alle Möglichkeiten zum Erlass von Rechtsverordnungen auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes genützt. Soweit das Gesetz die Kompetenz aber bei den Ländern verortet, bleibt dem Bund gar nichts anderes übrig, als die entsprechenden Rechtsverordnungen den Ländern zu überlassen. Der Bund setzt also auch in der Krise auf Landesregierungen, die Verantwortung übernehmen und selbst gestalten wollen.

Für beide – Bund und Länder – ist die Pandemie ein bislang nicht gekannter Stresstest, in dem sie mehr als je zuvor eine doppelte Verantwortung tragen: für das große Ganze wie für seine Teile. Und auch dem einzelnen Bürger ist eine Verantwortung zugewachsen, die er so bislang nicht kannte. Dass hier Fehler und Fehleinschätzungen unterlaufen, ist verständlich. Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Föderalismus begründet das aber nicht. Im Übrigen genügt ein Blick über die Grenze in unser Nachbarland Frankreich, das zentralistisch regiert wird, um zu beweisen, dass die föderale Ordnung ihre Vorzüge hat – vor allem, wenn es um Bürgernähe und Vermittelbarkeit politischer Entscheidungen geht.

 

Entscheidungen zu langsam?

 

Nachdem Ende Februar 2020 mehrere Covid-19-Fälle festgestellt wurden, stiegen die Zahlen der täglichen Neuinfektionen innerhalb der ersten zwei Märzwochen sprunghaft an. Am 12. März fand deshalb ein Treffen der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder mit der Bundeskanzlerin statt. Dabei einigte man sich auf Versammlungsverbote und Schulschließungen. Vier Tage später, am 16. März, waren von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen alle Schulen und Kitas geschlossen. Für die Kinder berufstätiger Eltern in systemrelevanten Berufen wurde eine Notbetreuung angeboten. In der Woche zuvor hatten bereits 14 von 16 Ländern erste Versammlungsverbote erlassen, die letzten beiden Länder folgten am 17. März. Auch bei den Lockdown-Entscheidungen im November und im Dezember des vergangenen Jahres hatten wir eine bundesweite Umsetzung von Landesverordnungen, die in der Regel innerhalb von 48 Stunden gelaufen ist. Man kann dem Föderalismus also nicht vorwerfen, dass er in der Krise zu langsam reagiert hätte, zumal jeder dieser relativ schnell umgesetzten Entscheidungen eine intensive und vielstimmige Debatte vorausgegangen war.

 

 

Bedeutung der Ministerpräsidentenkonferenz

 

Fragen wie „Warum immer diese Debatten zwischen Kanzlerin, Ministerpräsidentinnen und -präsidenten?“ oder „Wieso können sich die nicht einfach mal auf eine Linie einigen?“ sind natürlich verständlich. Nur sind sie schwieriger zu beantworten, als viele denken. Denn Corona ist nicht irgendein Thema, dem man, wie sonst üblich, durch Kompromisse zwischen Bund und Ländern gerecht werden könnte, im Gegenteil: Das Virus ist nicht nur real, sondern auch in Verhandlungen ein Problem für alle, die das Geben und Nehmen gewohnt sind, die darauf vertrauen, dass Kompromisse ausgleichend wirken. Corona ist vermutlich die größte Herausforderung für unser politisches System seit Gründung des Freistaats Bayern und der Bundesrepublik Deutschland. Denn das Virus scheint sich den föderalen Gepflogenheiten zu entziehen, die über Jahrzehnte eingeübt worden sind. Und es hat ein Gremium in den Mittelpunkt gerückt, das bisher nicht die volle Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hatte: die Ministerpräsidentenkonferenz. Sie besteht aufgrund einer Initiative des damaligen Bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard seit 1954 und soll die Koordinierung politischer Ziele und Maßnahmen zwischen den Ländern und der Bundesregierung verbessern. Vom 1. Oktober 2019 bis zum 30. September 2020, also in der ersten Phase der Pandemie, hatte Bayern den Vorsitz. Die ausländische Presse bescheinigte Deutschland damals ein vorbildliches Pandemie-Management.

Eigentlich treffen sich die Regierungschefs der Länder nur viermal im Jahr, zweimal davon mit der Kanzlerin. Die Corona-Krise hat das geändert. Mittlerweile gibt es alle paar Wochen eine Besprechung mit der Bundesregierung. Die Ministerpräsidentenkonferenz ist im Gegensatz zum Bundesrat kein Verfassungsorgan und auch nicht an der Gesetzgebung des Bundes oder der Länder beteiligt. Politisch ist ihre Bedeutung aber stark gewachsen, auch wenn ihre Beschlüsse informell und nicht bindend sind und erst durch parlamentarische Verfahren in den Bundesländern rechtlich umgesetzt werden müssen.

 

Rolle des Bayerischen Landtags

 

Der Bayerische Landtag hat als erstes Landesparlament in Deutschland in der Pandemie eine Form der parlamentarischen Beteiligung entwickelt, die seiner Kontrollfunktion entspricht. In der Praxis sieht das so aus: Der Ministerpräsident erläutert in einer Regierungserklärung die Corona-Beschlüsse, zu denen die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin gekommen sind, und stellt die Position der Staatsregierung dar. Im Anschluss besteht die Möglichkeit zur Aussprache und zur Abstimmung über den Kurs. Dazu haben die Fraktionen die Gelegenheit, mit Dringlichkeitsanträgen ihre Positionen festzulegen. Darüber wird debattiert und abgestimmt, bevor die entsprechende Verordnung in Kraft tritt. Somit ist auch der Bayerische Landtag während der Pandemie seiner Funktion innerhalb eines effizienten Föderalismus gerecht geworden. Aus seiner Sicht bekommen Entscheidungen der Ministerpräsidentenkonferenz erst durch Kommunikation und Rückkopplung im Landesparlament einen repräsentativen, föderalen Charakter – und eine besondere Legitimation.

 

Föderalismus – ein lernendes System

 

Dass die Bundesländer manchmal unterschiedlich mit der Pandemie umgehen, ist eine Folge des Föderalismus und kein Argument gegen ihn. Er ist ein lernendes System. Das hat er mit den Reformen der Jahre 2006 und 2009 bewiesen. Und er wird auch aus der Corona-Krise lernen, die seinen Einfluss auf den Bund gestärkt und nicht geschwächt hat. Der Fokus lag dabei allerdings nicht auf dem Bundesrat, sondern auf der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin. Das war verständlich. Denn in Krisen stehen die Akteure der Exekutive im Vordergrund. Die Länder konnten aber mitbestimmen und mitgestalten und haben die notwendigen Maßnahmen zügig umgesetzt. Dass es dabei mitunter zu im Detail voneinander abweichenden Regelungen kam, ist verzeihlich, auch wenn die eine oder andere Kuriosität von den Medien gern mit dem Bild vom „Flickenteppich“ untermalt wurde. Mitunter konnte man diesen Eindruck zwar gewinnen; das war den höchst unterschiedlichen Inzidenzwerten geschuldet, die regional zwischen 35 und mehr als dem Zehnfachen lagen. Wer den Blick aber auf die verfügten Maßnahmen lenkt, wird feststellen, dass die Unterschiede zwischen den Bundesländern gar nicht so groß sind, wenn man die Lockdown-Phasen vergleicht, und vor allem, dass sich der Föderalismus auch in der Corona-Pandemie als ein Bollwerk gegen die Machtkonzentration beim Bund erwiesen hat – mit seinen an die Regionen und Situationen angepassten Lösungen und mit der Gewissheit, gehört zu werden und gestalten zu können.

Ilse Aigner

Präsidentin des Bayerischen Landtags

Foto: (Foto: Rolf Poss)

 

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